• EUDie EU-Präsidentschaft

Rede des Stellvertretenden Ministerpräsidenten und Außenministers, Herrn Evangelos Venizelos, vor dem Plenum des Europäischen Parlaments anlässlich des Jahrhundertjubiläums des Ausbruchs des 1. Weltkriegs (Strassburg, 16.04.2014)

Rede des Stellvertretenden Ministerpräsidenten und Außenministers, Herrn Evangelos Venizelos, in der Plenarsitzung des Europäischen Parlaments in  Strassburg,  anlässlich des Jahrhundertjubiläums des Ausbruchs des 1. Weltkriegs (16.04.2014). 
„Das Europäische Parlament hat sich zu Recht entschieden, die heutige Plenarsitzung dem Jahrhundertjubiläum des Ausbruchs des 1. Weltkriegs zu widmen und seine Arbeiten mit einer Botschaft an den Bürgern Europas zu schließen: dass es einen ausgeprägten Sinn für die Geschichte hat. Die aktive historische Erinnerung ist das einzige sichere Fundament für wichtige politische Initiativen, wie diejenigen, die Europa heutzutage dringend nötig hat. 
Das Ende der Geschichte, das Ende der Kriege –zumindest in Europa– und die Aufrichtung des „ewigen Friedens“ wurden nicht zum ersten Mal nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges proklamiert sondern,  theoretisch, vor dem Ausbruch des 1. Weltkriegs. 
Das Jahrhundertjubiläum des Ausbruchs des so genannten „großen Kriegs” fällt beinahe mit den Europawahlen –der Wahl des neuen Europäischen Parlaments– zusammen, und daher auch mit der Entstehung eines Machtverhältnisses, welches die bestehenden Gleichgewichtsverhältnisse zwischen Regierungen  oder Staaten ergänzen wird. Gleichzeitig ist die Europäische Union mit den Folgen der 2007-2008 ausgebrochenen Haushalts- und Finanzkrise konfrontiert.  In vielen Mitgliedstaaten und ihren Gesellschaften geht es um die brennende Frage, ob es ein Europa ohne Sparpolitik und hohe Arbeitslosigkeit (vor allem unter der Jugend) geben kann. Für alle ist jedoch die Frage entscheidend, ob Demokratie und Rechtsstaatlichkeit weiterhin Kennzeichen Europas sein werden; ob der europäische Sozialstaat weiter existieren wird, welcher die demographische und Finanzkrise durch Pluralismus, Toleranz, Wettbewerbsfähigkeit, Vollbeschäftigung, Innovation, Kreativität und Kultur −d. h. durch Werte, die das historische, ideologische und politische Fundament der europäischen Integration nach den verheerenden Erfahrungen der zwei Weltkriege bilden− überwältigen kann. 
Hundert Jahre nach Ausbruch des 1. Weltkriegs sieht sich Europa mit einer Serie offener Krisen in seiner östlichen und südlichen Nachbarschaft (von Syrien bis Libyen und von Iran bis in die Ukraine) konfrontiert; mit Situationen, die es als international anerkanntes einheitliches politisches Gefüge auf die Probe stellen.  Vor ein paar Monaten konnte sich noch niemand vorstellen, dass eine akute Krise in den Beziehungen zwischen der Europäischen Union –der westlichen Welt überhaupt– mit Russland anlässlich der Ukraine ausbrechen und sich rasch zum heikelsten politischen und wirtschaftlichen Problem entwickeln würde.  
Der Verlauf des 1. Weltkrieges und das amerikanische Engagement in diesem vorwiegend europäischen Krieg hatte als Folge, dass Frieden, Sicherheit und Stabilität für Europa nach 1917 de facto zur euro-atlantischen Angelegenheit wurde. Diese Tatsache wurde auch durch den 2. Weltkrieg bestätigt und bestätigt sich weiterhin in allen offenen, internationalen wie auch regionalen Krisen. 
Die Lage in Bosnien und Herzegovina, im Herzen des europäischen Kontinents, erfordert noch das besondere Interesse der Europäischen Union und der gesamten internationalen Gemeinschaft; merkwürdig, wenn man bedenkt, dass ein Ereignis in Sarajevo den 1. Weltkrieg auslöste. Die Geschichte wiederholt sich jedoch nicht, wenn wir von ihr Lehren ziehen; wenn wir von ihr eine Koordinate unserer Analysen und Strategie machen. 
Die griechische Ratspräsidentschaft ist der Auffassung, dass die Tatsache, dass alle diese historischen Herausforderungen –von den Europawahlen und der Einigung über den Einheitlichen Bankenabwicklungsmechanismus bis hin zur Krise in der Ukraine− mit ihrer Amtsperiode zusammenfallen, ein Zeichen dafür ist, dass ihr eine verstärkte Verantwortung zufällt. 
Dieses Semester ist wegen der Europawahlen kürzer,  weist jedoch eine Dichte politischer Ereignisse auf. Wir sind daher verpflichtet, den europäischen Völkern ein neues, umfassendes und attraktives Narrativ über die europäische Integration und deren Perspektiven anzubieten.   
Jede europäische politische Partei formuliert die eigene Version im Rahmen eines demokratischen, pluralistischen Prozesses. Die technischen Einzelteile dieses Narrativs gestalten sich inmitten von Schwierigkeiten, die manchmal Verzögerungen verursachen –  doch es gelingt immer zu einem Ergebnis zu kommen. Ich beziehe mich auf die Bankenunion, die Arbeitsgruppe für die eigenen Mittel und über die laufende Debatte über das Prinzip der Konditionalität. 
Neue Instrumente, wie die Initiative für die Jugend, werden in den europäischen Finanzierungsmechanismen einbezogen. Das Triptychon “Stabilisierung - Wachstum - Beschäftigung” wurde wieder zum Emblem der Union. Die Verknüpfung der Außen- und Energiepolitik der EU ergänzt nun die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Beziehungen der Union zum NATO sind jetzt ausgewogener und reflexiver. 
Das Jahrhundertjubiläum des Ausbruchs des 1. Weltkriegs zwingt uns allerdings zu erinnern, dass die großen Probleme immer politischer Natur sind. Sie beziehen sich auf ethnische, sprachliche und religiöse Identitäten und Empfindlichkeiten; auf beständigen nationalen Prioritäten, Stereotypen, geopolitische und geo-wirtschaftlichen Konzeptionen. 
Es ist daher wichtig heute in Strassburg, vor dem Plenum des Europäischen Parlaments zu betonen, dass hundert Jahre nach Ausbruch des 1. Weltkrieges, die Bürger und Völker Europas sich endgültig für den Frieden, die Stabilität, die Achtung der bestehenden Grenzen, die Souveränität und territoriale Integrität der Staaten des europäischen Kontinents entschieden haben. Selbstverständlich ist das leider nicht; nichts kann als selbstverständlich gelten. Es ist jedoch existenziell notwendig, sollte der Blick der Geschichte nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft gerichtet sein“.